Mein Meditationsweg – Wie ich zur Meditationstechnik Vipassana kam
Meine erste Begegnung mit Meditation hatte ich 2011 in Thailand. Ich hatte mich kurzerhand entschieden, einen 10–tägigen Meditationskurs zu buchen und saß eine Woche später im Flieger. Ich wusste gar nicht richtig, wohin mich diese Reise führen würde und ich wusste auch rein gar nichts über diese Meditationstechnik Vipassana. Nur eines war sicher: ich musste da hin.
Nach einer längeren Reise kam ich schließlich in Phitsanulok an. Das war eines der vielen Meditationszentren in Thailand. Weltweit gab es zu dem Zeitpunkt mindestens 130 Meditationszentren. Heute sind es bestimmt einige mehr. Denn diese Meditationspraxis wurde in den letzten Jahren immer häufiger von Menschen wahrgenommen und der „run“ war groß und ist es bis heute. Heute steht man auf Wartelisten weit im Voraus. 2011 war das noch ein bisschen anders. Da dieses Meditationszentrum jedoch das Einzige war, was innerhalb einer Woche noch einen freien Platz hatte, fiel eben die Wahl auf Phitsanulok. Denn wenn ich mir etwas in den Kopf gesetzt habe, dann will ich es jetzt und nicht erst in einigen Wochen. Rückblickend war es eine mehr als wunderschöne Erfahrung; allen voran in dieser schönen Gegend diese Erfahrung gemacht zu haben.
Das Gelände war weitläufig; rundherum nur Dschungel. Das Meditationszentrum war eingebettet in dieser wunderschönen friedlichen Gegend. Schon allein dieser Ort war ein Platz der Stille. So ruhig und schön. Ich sah nur grün und vereinzelt ein paar flache Steingebäude. Eine klare Energie war zu spüren. Ich bezog mein Zimmer. Ein Einzelzimmer mit Bett (also eher einer Pritsche), einer kleinen Kommode und einem Stuhl. Ansonsten nichts. Wir wurden bei unserer Ankunft gebeten, alles abzugeben wie Handys, Bücher und alles andere, was ablenken könnte. Das tat ich auch, denn man sollte sich hier nur um sich „kümmern“, also keine Ablenkung mitnehmen. Nachmittags bekamen wir Tee und Kakao und eine Einweisung. Uns Meditierenden wurden nun die Regeln erklärt: Wir durften während dieser zehn Tage nicht mit den anderen reden, wir sollten uns nicht einmal in die Augen gucken (in dem Essensraum wurden sogar Trennwände aufgestellt, sodass wir wirklich nicht in die Versuchung kamen, jemanden zuzulächeln). Wir erhielten eine vegetarische Kost und Drogen aller Art waren Tabu. Sexuelle Enthaltsamkeit und das Tragen heller und langer Kleidung waren zu befolgen. Jeder Tag hatte dieselbe Struktur und diese war ebenfalls zu befolgen. Und dann ging es auch schon los. Auf uns warteten zehn Tage Meditation. Ich war aufgeregt, neugierig und ängstlich zugleich. Aber ich wusste, dass ich hier richtig bin.
Der erste Gong schlug am folgenden Morgen um 4.30 Uhr. Völlig verschlafen wankte ich aus meinen Bett, zog mich an und putze mir die Zähne. Dann lief ich zusammen mit den anderen einen langen Weg durch den Dschungel entlang zum Meditationshaus, denn wir meditierten gemeinsam in einem Saal. Das Gebäude war viel größer und vor allem viel höher als die anderen Steinhäuser. Den Eingangsbereich verzierten zwei riesige Säulen, die rechts und links vom Eingang standen. Ein großer Buddha verzierte den Eingang. Ich betrat das Gebäude. Hier mussten wir alle unsere Schuhe ausziehen. In diesem Raum standen mehrere große Käfige voller unterschiedlicher Kissen für uns Meditierenden bereit, um uns offensichtlich die nächsten Stunden so angenehm wie möglich zu gestalten. Ich deckte mich mit ein paar unterschiedlich geformten Kissen ein. Naja, so viel wie ich eben tragen konnte. Denn irgendwie wusste ich innerlich, dass ich die brauchen würde. Ich betrat die Meditationshalle. Oben hingen mehrere Ventilatoren, die für einen leichten Luftzug sorgen sollten. Die Fenster waren circa drei bis vier Meter über mir. So wurde wohl vermieden, dass keiner rausgucken und nach Ablenkung suchen konnte. Jeder sollte sich hier ganz auf sich selbst konzentrieren. Es saßen schon sehr viele Meditierende in den ersten Reihen. Rechts die Männer, links die Frauen. Wir „Ausländer“ mussten in den hinteren Reihen Platz nehmen, die wohl auch die meisten Kissen um sich rum deponiert hatten. Ich platzierte mich in der vorletzten Reihe im Schneidersitz und versuchte, all die Kissen irgendwie irgendwo um mich herum so zu betten, dass ich keine Schmerzen empfinden würde. Gefühlt saßen hier über 100 Meditierende. Nachdem jeder einen Platz gefunden hatte, kehrte Stille ein. Und dann hörte ich ein Gesang. Ein Band wurde abgespielt. Anfangs fand ich diesen Gesang furchtbar. Es war mehr ein dumpfes Gemurmel als annähernd eine Melodie. Das ging gefühlt eine halbe Ewigkeit. Ich konnte auch eigentlich schon gar nicht mehr sitzen, denn mein Rücken tat mir jetzt schon weh. Wie soll das nur werden? Wie sollte ich nur diesen Tag überstehen? Und dann weitere neun!? Angst und Zweifel stiegen in mir auf und ich fragte mich, warum ich mich eigentlich hierzu entschieden hatte. Frieden. Ja, genau. Das war es. Das Bedürfnis, inneren Frieden zu spüren. Da hörte ich eine Stimme. Ebenfalls dumpf und tief. Das Gemurmel bekam eine Stimme. Undeutlich. Dieser Gesang ist von S.N. Goenka. Sein Name ist Satya Narayan Goenka. Er wurde 1924 in Mandalay geboren und war ein führender Lehrer der Vipassana-Meditation. Er litt unter Migräneanfällen und suchte eine Methode der Linderung. So kam er zu der Meditationspraxis Vipassana. Seine Migräneanfälle wurden deutlich weniger bis sie schließlich ganz weg waren.
Nun wurde uns auf Englisch erklärt, was wir für die nächsten drei Tage tun mussten. Drei Tage lang das gleiche, mehrere Stunden am Tag. Puh, wie sollte ich das nur aushalten! Die Aufgabe war, uns auf unseren Atem zu konzentrieren und das ausschließlich in dem Dreieck zwischen den äußeren Nasenflügeln und Mundwinkeln. Also tat ich das. Es war interessant zu beobachten, dass der Atem manchmal nur aus dem rechten und manchmal nur aus dem linken Nasenloch strömt. Manchmal jedoch aus beiden Nasenlöchern zeitgleich. Es war jedoch ermüdend und anstrengend. Auch konnte ich nicht mehr sitzen. Ich wollte aufstehen. Alles tat mir weh. Ich schlief ein. Immer wieder. Mein Kopf knickte mir weg. Mehrere Male. Das war alles so anstrengend. Ich überlegte die Augen zu öffnen, da ich bis dahin meine Augen geschlossen hielt. Darf ich das? Sieht mich dann jemand? Es stand bis jetzt keiner auf. Zumindest hörte ich nicht, dass jemand den Raum verließ. Ich hörte mal ein Räuspern, ein Husten, aber sonst nichts. Nichts. Rein gar nichts. Es war totenstill in diesem Gebäude. Lediglich die Ventilatoren brummten ganz leise. Aber die waren so hoch, dass auch das Brummen nicht wirklich zu hören war. Ich öffnete die Augen. Vor mir sah ich nur Statuen. Alle saßen einfach nur da. Alle im Schneidersitz und meditierten. Unglaublich. Bin ich die einzige hier, der alles weh tut?! Bin ich die einzige, die nicht mehr sitzen kann und aufstehen will?! Ich schloss schnell wieder meine Augen. Das konnte ich nicht glauben. Dann gab es endlich irgendwann den nächsten Gong. Ich hatte komplett mein Zeitgefühl verloren. Es fühlte sich an wie eine halbe Ewigkeit. Ich öffnete die Augen und alle standen auf; ließen aber ihre Kissen liegen. Also versuchte auch ich langsam aufzustehen. Unmöglich. Meine Beine waren eingeschlafen. Mein Rücken tat weh. Also blieb ich erstmal sitzen und wartete bis das Kribbeln nachließ und meine Beine aufwachen würden. Dann endlich konnte ich mich bewegen. Langsam, hinkend und unter vollen Schmerzen lief ich allein zurück zu den anderen Gebäuden, wo sich unsere Schlafräume und auch der Essenssaal befand. Alles war so still. Im Essenssaal hörte ich nur das Geschirr klappern. Aber auch das war ganz leise. Nicht so wie in einem Essenssaal in einem Hotel auf Mallorca. Sehr bedacht, ruhig und mit viel Gefühl. So würde ich das beschreiben. Ich hatte einen mega Hunger und freute mich wahnsinnig auf das Frühstück. Ich weiß nicht mehr genau, was es gab. Gemüse mit Nudeln glaub ich. Es gab jeden Morgen warmes Essen. Und das tat gut. Immerhin waren wir alle schon einige Stunden auf den Beinen bzw. am Sitzen. Ich bekam eine gute Portion auf den Teller und schaufelte es gefühlt in mich hinein. Ich erinnere mich noch, dass das Essen sehr lecker war – egal, was es gab. Anschließend hatten wir eine Stunde Pause. Ich legte mich auf meine Pritsche und schlief auch sofort ein. Der nächste Gong ertönte. Es ging weiter. Die nächste Stunde war eine gemeinsame Meditation. Wir meditierten dreimal am Tag gemeinsam. Zu jenem Zeitpunkt wusste ich noch nicht, wo da der Unterschied war; ob gemeinsam oder allein. Da wir doch eh alle gemeinsam in einem Raum saßen und jeder für sich allein meditierte. Aber nach einigen Tagen spürte ich einen Unterschied. Es fühlte sich anders an. Die Energie mit weiteren gefühlt 100 Menschen zu Meditieren ist eine andere. Bekommt man erst einmal ein Gefühl für sich und die Energien, die um einen herum sind, ist der Unterschied deutlich spürbar. Nach der gemeinsamen Meditation meditierte wieder jeder für sich. Der nächste Gong ertönte und es gab Mittag. Ich hatte auch schon wieder Hunger. Dieses Meditieren strengte irgendwie an. Geistige Arbeit ist anstrengend. Ich war wieder ein paar Mal eingeschlafen und meine Beine gleich mit. Auch danach hatten wir wieder eine Pause und ich schlief auch jetzt wieder sofort auf meiner Pritsche ein. Der nächste Gong ertönte und es ging weiter. Wieder Meditieren. Wieder nur auf das Dreieck zwischen Nasenflügeln und Mundwinkeln konzentrieren. Den Fokus halten. Es war ermüdend. Und das ging so die nächsten zwei Tage. Eine gemeinsame Meditation folgte und anschließend wurde mit dem Gong zum „Nachmittagstee“ gerufen. Der Nachmittagstee bestand tatsächlich nur aus Tee und Kakao. Sie hatten Ovomaltine, was ich sehr belustigend fand; aber es stillte wenigsten meinen Hunger. Es gab also nichts mehr zu essen. Oh mein Gott.. wie sollte ich das nur aushalten!? Also trank ich gleich zwei Tassen Ovomaltine. Eine Pause folgte. Ehrlich gesagt weiß ich heute nicht mehr, wie lange diese jeweiligen Einheiten dauerten.
Jeden Abend versammelten sich die „Ausländer“ (wir waren in etwa zwölf Meditierend aus anderen Ländern) in einem extra Raum und bekamen circa eine Stunde auf Englisch erklärt, was wir hier tun und was genau diese Meditationstechnik eigentlich bewirkt. Die anderen blieben in dem großen Meditationssaal sitzen. Wahrscheinlich lief hier das Band auf Thailändisch ab. Der Hintergrund dieser Mediationstechnik, um es in kurzen Worten zu erklären, die schon Buddha praktizierte, ist die Urachtsamkeitstechnik der Meditation. Hierbei sollen alle Negativitäten wie Wut, Trauer, Enttäuschung, Hass, Zweifel, Ängste wie zum Beispiel Verlustangst und andere negative Emotionen, die sich über die Jahre im Körper manifestiert haben, auflösen. So zumindest verstand ich es. Diese Negativitäten nennen sie „Sankaras“. Der Gedanke dahinter ist, dass das Erlernen dieser Technik den Meditierenden einen anderen Blickwinkel aufzeigt, um sich mit dem Schmerz, der irgendwann während der Meditation und des langen Sitzens aufkommt, anders auseinander zu setzen. Man soll den Schmerz nicht mehr als Schmerz definieren, sondern als etwas Neutrales und so das Gefühl (also den Schmerz) annehmen können als eine neutrale Empfindung. Der Meditierende erlangt lediglich eine Beobachterperspektive und identifiziert sich nicht mehr mit dem Gefühl (dem Schmerz), der sich während der Meditation in einem breit macht. Man beobachtet nur und irgendwann löst sich das Gefühl, also der Schmerz, dann in sich auf. Und so löst sich dementsprechend auch der emotionale und seelische Schmerz, der sich dahinter verbirgt und schlafend all die Jahre dort verweilte, auf. Und der Schmerz war ja da. Schon in der ersten Stunde war er da. Im Rücken unter meinem linken Schulterblatt. Ein höllischer Schmerz. Natürlich gab es die Pausen und jedem Meditierenden stand es auch zu, mal aufzustehen, um auf Toilette zu gehen oder sich draußen ein wenig zu bewegen. Doch kaum setzte ich mich wieder hin, war der Schmerz wieder da. Der erste Tag ging vorüber und ich fiel wie gelähmt ins Bett. Wie sollte ich das nur aushalten? Wie um alles in der Welt soll ich weitere neun Tage überstehen? Über diese Gedanken schlief ich ein.
Jeder Tag war gleich. Die Technik „lenkte“ ein bisschen von dem Schmerz ab. Aber anfänglich auch wirklich nur ein bisschen. Auch am zweiten Tag schlief ich oft ein und mein Geist driftete ständig ab. Doch ich wollte da jetzt durch. Aber am dritten Tag konnte ich nicht mehr. Ich wollte weg, nach Hause, in die Arme meiner Mutter. Ich stellte das alles in Frage, war am Rande der Verzweiflung und wusste nicht, wie ich das durchstehen sollte. Dann erinnerte ich mich wieder an die Worte, die mich überhaupt hierhergeführt hatten: „Ich spürte einen Frieden in mir, den ich noch nie zuvor gespürt hatte“. Dieser Satz motivierte mich ja erst, diese Meditationstechnik zu erlernen, den Flug hierher zu buchen und es einfach zu machen. Ich bin ein Mensch, der nie wirklich über Konsequenzen nachdenkt. Ich folgte und folge immer noch einfach meinem Herzen und dem Ruf meiner Seele. Der Verstand folgte immer erst viel später. Die Fragen und Ängste tauchten immer erst dann auf, wenn ich schon mittendrin war. Auch das ist bis heute geblieben. Ein bisschen älter und vielleicht reifer, aber in Konsequenzen zu denken, engt ein und hält mich davon ab, Dinge einfach zu machen. Also, ich hatte mich jetzt hierzu entschieden und so hielt ich durch. Ich machte weiter. An diesem Tag hatte ich eine Erkenntnis. Die ganze Zeit zuvor schmerzte ja schon ein einziger Punkt unter meinem linken Schulterblatt. Ich konnte nicht mehr gerade sitzen, so tat dieser Punkt weh. Am Abend dann löste sich dieser Schmerz plötzlich auf. Mein Gefühl sagte mir, dass dieser Punkt mit dem Thema Schuld verbunden war. Tief verankert, unbewusst eingraviert, dass ich immer an allem Schuld war und endlich aufhören sollte, immer mir die Schuld an allem zu geben. Mein Verstand hatte gar nicht dieses Gefühl. Aber offenbar sah das mein Körper anders. Tränen flossen mir über die Wangen. Ich hatte diese manifestierte Negativität, diese negative Emotion in mir aufgelöst. Das war für mich ein Erfolgserlebnis. Am vierten Tag erlernten wir dann die eigentliche Meditationstechnik Vipassanas. Mir wurde bewusst, dass auch der Schmerz und die Verzweiflung irgendwann vorbeigehen würden. Und es wurde angenehmer und irgendwann fing es an, mir Spaß zu machen. Ich genoss diese Ruhe, diese Energie, den inneren Frieden, der sich langsam in mir ausbreitete. Ich wurde klarer, mein Verstand befreite sich von vielen Altlasten, unnötigen Gedanken und Ängsten. Die Schmerzen waren jedoch fast konsequent da; mal im Rücken, mal im Bein, im Fuß und vor allem in meiner rechten Hüfte (ich wurde mit einer Hüftluxation geboren und wurde mit sechs Monaten operiert – dazu aber mal mehr in einem anderen Artikel). Der Schmerz wanderte auch jedes Mal. Manchmal das ganze Bein entlang, durch den gesamten Fuß und wieder das Bein hinauf. Ein anderer Schmerz wanderte den Rücken entlang, hinauf oder hinab, mal blieb er für eine Weile an einer Stelle und dann wanderte er wieder weiter bis sich der Schmerz dann irgendwann an irgendeiner Stelle in „Luft“ auflöste.
Ich fühlte mich mit jedem Tag ein bisschen leichter. Die letzten Tage vergingen dann wie im Flug. Jeder erhielt die Möglichkeit in einer „Einzelzelle“ zu meditieren. Die Zelle war vielleicht 1,5 Meter mal 1,5 Meter klein. Sie war komplett aus Holz und es lag nur ein Meditationskissen auf dem Boden. Ich erinnere mich noch genau, wie ich anfänglich dachte, da gehe ich nie rein. Und am neunten Tag probierte ich es. Meine Beine machten sich selbständig und führten mich in diese „Einzelzelle“. Verrückt! Ich wusste, dass ich jederzeit diese „Zelle“ verlassen und mich zu den anderen Meditierenden auf meinen eigentlichen Platz setzen konnte. Es war recht warm in dieser „Zelle“. Ich meditierte dort bis auf die gemeinsamen Meditationen den ganzen Tag allein. Es war ein unbeschreibliches Gefühl. Hier kamen nochmal ganz andere Emotionen hoch. Es waren die Gefühle der Enge, des Alleinseins und die Angst, vergessen zu werden. Obwohl der Verstand wusste, dass ich ja jederzeit hier raus kann und mich zu den anderen setzen konnte, war diese Angst den ganzen Tag über präsent. Also beobachtete ich. Denn das hatte ich ja gelernt. Beobachten und weder zu bewerten noch zu definieren. Am Ende des Tages war ich unglaublich stolz auf mich, dass ich in dieser kleinen Zelle für mehrere Stunden allein meditierte. Es zeigte mir, was möglich ist und wie Angst und negative Emotionen unser Handeln beeinflussen können. Und auch tun.
Der 10. Tag war nun gekommen. An diesem Tag erfuhr ich eine noch viel unglaublichere Erfahrung. Eine Erfahrung, die mich für mein ganzes weiteres Leben prägen würde und mich auf einen Weg der spirituellen Weiterentwicklung brachte. Ich weiß nicht mehr genau, was genau geschah. Ich weiß nur noch, dass ich höllische Schmerzen – nun eine Empfindung – in meiner rechten Hüfte hatte. Und wieder war es für mich nur Empfindung eben ohne Bewertung, ohne Angst. Ich ging durch etwas hindurch. Etwas tief Verankertes. Allein, dass ich mit einer Hüftluxation geboren wurde, zeigt, dass sich in meiner Hüfte recht viel emotionaler Schmerz angesammelt haben musste. Der Körper sucht sich bei emotionalen Traumata immer das schwächste Körperteil; egal, ob eines der Gliedmaßen oder ein Organ. Das war ja bei mir lange meine Hüfte gewesen. Das war bis jetzt der schlimmste Schmerz, den ich in den zehn Tagen spürte. Der Schmerz war kaum auszuhalten. Ich wollte weg. Wollte raus. Ich habe all die Leiden bis jetzt durchgehalten; also schaffte ich auch das jetzt. Doch es war viel heftiger. Die Technik beherrschte ich mittlerweile „im Schlaf“. Trotzdem fiel es mir schwer. Vielleicht machte sich genau dieser Schmerz aber auch erst jetzt bemerkbar, da ich die Technik in und auswendig beherrschte. Ansonsten hätte ich vielleicht viel früher das Ganze aufgegeben. Ich gab nicht auf. Ich konzentrierte mich auf die Technik und nahm die Beobachterperspektive ein. Ich haftete mich nicht an meinen Körper, denn ich bin Seele und Geist. Ich identifiziere mich nicht mit dem Schmerz. Ich beobachte. Ich durchlief jede einzelne Stelle meines Körpers – so wie wir es gelernt haben. Ich behielt den Fokus. Und so ging ich auch diesmal durch diesen Schmerz. Vor meinem geistigen Auge sah ich mit den unterschiedlichen Empfindungen auch jedes Mal Bilder. Manchmal spielte sich ein richtiger Film ab. Auf diese Weise wurden mir wohl meine Emotionen (also meine Schmerzen) visuell dargestellt. Mal waren es wundervolle Bilder, mal Traurige. Doch das Bild, was sich nun zeigte, werde ich wohl nie vergessen: Ich saß auf einem Pferd, trug eine schwere Rüstung, auf meinem Kopf einen Schutzhelm; in der rechten Hand ein Schwert, in der Linken ein Schutzschild. Es fühlte sich an, als ob ich ins 18. Jahrhundert zurück katapultiert wurde. Ich blieb offen für das, was da jetzt wohl kommen wollte. Das Pferd, auf dem ich saß, stand auf einem grünen Hügel. Ich sah mich mit erhobener Hand den Hügel auf- und abreiten und sprach zu „meiner“ Armee. Ein ganzes Heer Krieger saß auf Pferden; alle mit Schwertern und Schutzschildern ausgestattet, bereit für mich in den Kampf zu ziehen. So fühlte es sich an. Das war eine innere Gewissheit. Es war beängstigend mich so zu sehen. Wissend, dass ich das bin! So kampfbereit. Plötzlich hörte ich in meinem Kopf eine sanfte Stimme sagen: „Sieh dir das genau an. Das bist du. Immer in Kampfstellung. Das ist Dein Heer." Und ich schaute wieder auf das Heer; tatsächlich waren alle Krieger in Kampfstellung. "Also frage ich dich, willst du weiterhin in den Kampf ziehen oder willst du Frieden?“ „Frieden?“ fragte ich zurück. „Ja, Frieden. Dafür musst du dich nur umdrehen.“ Und da lag der Frieden. Ich sah am unteren Ende des Hügels ein kleines Holzhaus stehen. Rauch stieg aus dem Schornstein. Hinter dem Häuschen floss ein kleiner Bach entlang. Das Haus lag eingebettet in Wäldern und in einer absoluten Stille. Dieses Gefühl war so real und ich wusste, das ist Frieden. So will ich leben. „Wofür entscheidest du dich?“ fragte die sanfte Stimme. Tränen kullerten mir über die Wangen. Ich war so berührt von diesem Anblick des Häuschens. Von diesem Frieden. Von der Energie, die von dort ausging. Ich drehte mich noch einmal um und blickte auf "mein" Heer und dachte: Nein, das ist nicht Frieden! Das ist Wut, Zorn und pure Aggression. Als ob die Stimme wusste, wofür ich mich entscheiden würde, sagte sie: „Dann lege Schwert und Schutzschild ab und dieses Leben (ich wusste, welches Leben die sanfte Stimme meinte) wartet auf dich.“ Einige weitere Tränen liefen über meine Wangen bis ich im Geiste von meinem Pferd abstieg, Schutzschild und Schwert auf den Boden legte und meinen Helm abnahm. Ich lief den Hügel hinunter in Richtung Frieden und schaute mich nicht einmal mehr zu meinem Heer um.
Und da löste sich der Schmerz auf. Der Schmerz war weg. Ich öffnete plötzlich die Augen und im gleichen Augenblick schoss mir der Gedanke durch den Kopf „und jetzt einen Apfel“. Ich war so verwundert über diesen Gedanken, denn Äpfel konnte ich seit meiner Kindheit nicht leiden. Allein von dem Geruch ist mir regelrecht schlecht geworden. Ich habe auf nichts so allergisch reagiert wie auf Äpfel. Und jetzt hatte ich plötzlich Appetit auf einen Apfel? Wie kann das sein?
Ich hatte eigentlich gedacht, dass wir denselben Tagesablauf haben werden und erst morgen früh wieder reden und uns „normal“ verhalten durften. Aber schon vor dem Mittag fing das gewohnte Leben wieder an. Das zeigte uns ein Schild als wir den Meditationssaal verließen. Wir durften wieder reden. Ich war so überrascht, dass schon der 10. Tag gekommen war. Ich spürte jedoch Enttäuschung und Traurigkeit in mir aufsteigen. War ich tatsächlich ein bisschen traurig darüber, dass es schon vorbei war? Meine Emotionen konnte ich gar nicht richtig Raum geben, denn zwei „Ausländer“ kamen auf mich zu und sprachen mich auf Englisch an. Wir gingen nun plappernd (eher die anderen beiden, ich blieb noch ein bisschen in Stille) Richtung Essensraum. Die Trennwände waren nicht mehr da und die Ruhe hatte sich in ein hektisches Durcheinander verwandelt. Alles fühlte sich plötzlich so surreal an. Sollte es das gewesen sein? Offensichtlich. Was aber blieb, war diese greifbare, klare und friedvolle Energie in mir. Und der innere Frieden, nach dem ich mich kurz zuvor so sehr gesehnt hatte. Ich spürte Frieden. Dieses Gefühl habe ich bis heute nicht vergessen und es erwärmt immer noch mein Herz, wenn ich daran zurückdenke.
Dieser Frieden hielt sehr lange an. Fast ein Jahr lang hörte ich keine Musik, las keine Bücher, brauchte keine Ablenkung. Ich war einfach ich. Ich war gut mit mir. Meditierte jeden Tag und verinnerlichte diese Meditationstechnik bis in jede Zelle hinein. Seitdem war und ist Meditieren aus meinem Leben nicht mehr wegzudenken. Es wurde ein Teil von mir und ist es bis heute. Über die Jahre allerdings veränderte ich meine Meditationstechnik. Ich probierte viel aus und integrierte neue Techniken, die ich teilweise bis heute beibehalte. In diesen zehn Tagen erfuhr ich einen tiefen Transformationsprozess und lernte, wie Meditation meinen emotionalen Schmerz heilen konnte. Stück für Stück. Schritt für Schritt. Durch diese Meditationstechnik gelangte ich nicht nur auf geistiger Ebene zu mir, sondern auch auf emotionaler und körperlicher. Mir wurde bewusst, was alles durch Meditation zu erreichen und möglich ist. Tiefgründige Prozesse können transformiert und geheilt werden – eine Technik, die ich für mich und meinen Selbstheilungsprozess neu entdeckt hatte.
2019 absolvierte ich dann eine Ausbildung zur Meditationslehrerin, um auch anderen Menschen zu zeigen wie Meditation die Seele berühren kann. Durch die Meditation fühle ich mich geerdeter, klarer und bin viel mehr in Kontakt mit mir, meinem Herzen und meiner Seele.
Nachtrag – Der Apfel:
Einige Tage später kaufte ich mir einen Apfel. Ich starrte lange auf den Apfel. Gedanken und Fragen kreisten in meinem Kopf: Habe ich mir das letztens nur eingebildet? Habe ich immer noch Appetit auf einen Apfel? Ich führte ihn langsam zu meiner Nase und roch erst einmal an diesem roten Apfel. Er roch gut. Gar nicht so wie ich den Geruch von Äpfeln in Erinnerung hatte. Wieder sehr langsam führte ich diesen schön duftenden roten Apel zu meinem Mund. Und biss rein. Ich begann zu kauen. Langsam. Ich behielt das Stück länger im Mund, um einfach zu spüren, ob das Stück Apfel etwas in mir auslöste. Aber kein Gefühl des Schlechtwerdens, kein Jucken in Mund oder am Gaumen. Nichts. Ich schluckte das Stück hinunter und wartete wieder ein bisschen. Nichts. Und so aß ich Stück für Stück diesen Apfel bis zur Hälfte auf, da ich mein System nicht überfordern wollte. Und er schmeckte – er war zuckersüß und saftig. Jedoch brauchte es noch viele Jahre, bis sich mein Heuschnupfen, meine Allergien und meine Neurodermitis auflösten. Das war eben „nur“ der erste Schritt – eben der Anfang vom Ende.
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